Wenn der menschliche Kalender mehr Rücksicht auf die natürlichen Zyklen nehmen würde, dann wäre dieser Tag gut für das Ende des Jahres geeignet. Oder für den Anfang des nächsten. Das haben Zyklen so an sich, das Ende von einem ist der Anfang von etwas anderem. Instinktiv tun wir ja genau das: nähert sich das Ende, planen wir das Neue. Wir planen gerne in die Zukunft. Wie trügerisch das sein kann, habe ich in diesem Jahr erlebt.
Christina und ich haben vor einem Jahr noch gemeinsam Pläne geschmiedet, wir wollten das Jahr 2020 zum Jahr der Orientierung für den Rest unseres Lebens machen. Wir waren ahnungslos. Nichts von dem, was wir andachten wird geschehen. Zumindest nicht so und nicht für uns beide.
Ich habe gelernt, die Vergänglichkeit zu akzeptieren. Zu sehen, dass die Vergangenheit nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist. Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Vorstellung, beides existiert nur in unserem Kopf, ist nicht real und doch: Alle unsere Sorgen und Ängste scheinen dort ihren Ursprung zu haben. Der Augenblick ist das, was zählt und meistens nutzen wir diesen nicht. Er verstreicht gedankenlos.
Dieses Jahr hatte ich einen Augenblick, der zu real war, um der Gedankenlosigkeit Raum zu lassen. Ich musste mich entscheiden, ob ich Christinas Tod als Verlust oder Vollendung betrachten will. Ich bin davon überzeugt, dass die einzige Möglichkeit Christina gerecht zu werden darin besteht, ihren Abschied aus dem Leben als Vollendung zu sehen. Damit bleibt mir ihr Geschenk wertvoll und frei von Last für mein restliches Leben.
Aristoteles wird die Einsicht zugeschrieben, dass unsere Erinnerung nicht so sehr als Aufzeichnung der Vergangenheit taugt. Vielmehr versetzt uns die Erinnerung in die Lage, uns eine Zukunft vorzustellen. Die Erlebnisse und Erfahrung in eine andere Ordnung zu bringen und uns so Neues, nie dagewesenes vorzustellen. Natürlich auch Vieles, was niemals eintreffen wird.
In Italien zu leben war in unseren Überlegungen eine Option. Jetzt habe ich dort in der Nähe meiner engeren Familie einen Platz gefunden, an dem ich in Zukunft leben will. Er sieht so aus, wie wir ihn gemeinsam erträumt haben und das schmerzt. Ich bin in München geboren, habe mein Leben bisher in Deutschland verbracht und es erscheint mir selbst paradox, aber im Augenblick fühlt es sich an, als würde ich nach Hause kommen. Das ist auch so etwas, was gesagt wird: im Alter schält sich der Lack der Erziehung und Sozialisierung, die Herkunft und die Gene zeigen sich mit größerer Deutlichkeit.
Allen, die mich in dieser Zeit unterstützt haben und auch allen, die mich weiter begleiten, will ich an dieser Stelle danken. Und ja, manche von uns werden sich auch aus den Augen verlieren, aber das ist der Lauf der Welt, kein Grund zu Trauer oder Bitterkeit.
„Im Entschwinden“, das ist der Titel, den Christina ihrem nächsten Buch geben wollte. Sie hat dieses Buch nie geschrieben, es entfaltet sich jetzt in Raum und Zeit. Dies ist der letzte Eintrag, den ich hier verfasst habe, irgendwann wird diese Website nicht mehr sein. Es heißt, das Internet vergisst nicht. Wir werden sehen …