Wenn der Tod in Dein Leben tritt, dann ist es so, als würdest Du plötzlich die Welt durch ein Fenster betrachten. Gerade eben warst Du noch mittendrin, jetzt stehst Du abseits und schaust zu. Die Zeit scheint aufgehoben zu sein, die Tage verschmelzen ineinander. Die Nächte bringen keine Ruhe und wenn der Morgen naht, wartest Du mit Bangen was der neue Tag bringt. Aber Du hast keine Wahl. Es gibt keinen Aufschub. Was ansteht, muss getan werden und Du tust es – einen Schritt nach dem anderen, irgendwie geht es.
Der Tod kommt wann es ihm gefällt und niemals passend. Wenn Du dasitzt und den geliebten Menschen verwelken siehst, dann spürst Du diese abgrundtiefe Trauer. Die Kälte des Endgültigen. Die Ahnung, dass es niemals wieder so sein wird wie zuvor. Dein Verstand hat es noch nicht begriffen, aber Deine Seele weiß es schon.
Vielleicht haben sie Dir gesagt, woran du den letzten Atemzug erkennen wirst. Es ist jener Atemzug, der anzeigt, dass das Herz nicht mehr genügend Sauerstoff hat, um weiter zu schlagen. Es ist der Augenblick, kurz bevor das Herz stillsteht. Manchmal bleibt das Herz auch von sich aus stehen, vorher weiß man das nie.
Dann siehst Du den leeren Blick in den Augen, den leicht geöffneten Mund. Nein, es ist keine vorübergehende Ohnmacht, wie Du sie vielleicht kennst, dies ist der Tod.
Die Glieder sind schlaff, der Körper schwer, so schwer wie Du es nicht kennst, wenn der Mensch lebt. Du kannst es nicht mit Schlaf verwechseln und rasch breitet sich die Kälte aus. Der Körper wird steif und nach einer Weile erscheinen die dunklen Flecken.
Der Mensch, den Du geliebt hast – es ist nur noch eine Hülle da. So groß die Ähnlichkeit auch sein mag, so sehr von fern besehen es aussieht als würde sie schlafen: der geliebte Mensch ist tot.
Du schwebst im raumlosen Raum und in zeitloser Zeit. Stille.
Was Du Dir nicht vorstellen konntest, ganz gleich wie sehr Du es auch versucht hast, ganz gleich wie viel Du gelesen hast, ganz gleich wie sehr Du dachtest Du weißt Bescheid – jetzt hast Du es erfahren.
Nun wirst Du Dinge tun, die Du niemals getan hast, ganz gleich wie oft Du sie vorher wiederholt hast. Die Begegnung mit dem Tod eines geliebten Menschen verwandelt Dich. Die Welt mag noch dieselbe sein, Du bist es nicht mehr und deshalb lebst Du jetzt in einer anderen Welt.
Wenn Du den Menschen geliebt hast, wirst Du seinen Körper reinigen. Du wirst duftendes Öl auf die kalte Haut aufbringen. Du wirst ihre Lieblingskleidung überstreifen und die Haare richten. Du wirst ein Kissen unter den Kopf schieben, der schwer in deinen Händen liegt. Dann wirst Du eine Kerze anzünden und die Familie, Freunde und Nachbarn verständigen, damit sie sich verabschieden können. Damit sie sehen, der Mensch ist von uns gegangen, zurückgeblieben ist nur die Hülle.
Du wirst die Decke nehmen, unter der Du Stunden der Ruhe mit dem geliebten Menschen verbracht hast. Du wirst sie in zwei Teile schneiden. Auf der einen Hälfte wirst Du den geliebten Menschen in seinen Sarg betten, die andere Hälfte ist für Deinen Sarg, hebe sie gut auf.
Bevor Du den Deckel auf den Sarg legst, schau Dir den Körper des geliebten Menschen noch einmal gut an, es wird das letzte Mal sein, dass Du ihn so siehst, wenn überhaupt noch einmal. Wenn dann der Wagen vom Hof fährt, erinnere Dich daran, wann der geliebte Mensch das letzte Mal diesen Hof betreten hat. Hast Du damals geahnt, dass es das letzte Mal sein wird?
Was von dem geliebten Menschen bleibt ist in Dir. Was wir mit den Toten teilen können ist nur die Erinnerung. Das ist es, was wir mit Sicherheit sagen können: die Toten leben in der Erinnerung mit uns. Es mag diese andere Welt geben, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt, wir hoffen und ahnen es zuweilen. Die Erinnerung lebt, daran herrscht kein Zweifel.
Wir sprechen von Erinnerungen, aber es geht um die Vergangenheit, den Weg, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Und wir sind hier, jetzt. Das ist gemeint, wenn Faulkner sagt: „Die Vergangenheit stirb nie. Sie ist noch nicht einmal vorbei.“
Der Augenblick, wenn der Tod ins Leben eintritt ist kostbar. Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, fühlen wir zunächst den Verlust. Sein Wesen, seine Nähe, seine Zugewandtheit – wann immer wir danach suchen fehlt es nun. Alle Dinge des täglichen Gebrauchs erinnern an den geliebten Menschen. Was uns im Augenblick bewegt wollen wir teilen und stellen fest, wir können es nicht mehr.
Es gibt Zeiten, da irre ich durch das Haus. Gehe in den Praxisraum. Setze mich auf einen der Stühle und schaue den Thanka des Avalokiteshvara an. Die Möbel sind noch alle da, die meisten Bücher, Kladden und die Aromaöle in ihrer kleinen Vitrine. In den Schränken weis ich die Tinkturen und die Bachblüten. Ich sehe die Farben der Wände, die Borte knapp unter der Decke. Alles atmet sie, verteilt ihre Schwingung.
Der Blick aus dem Fenster in den Garten, sie tat ihn, wenn sie zwischen zwei Patienten durchatmete, wartete bis sie den langen Weg durch den Garten auf das Haus zukamen. Bis die Patienten am Haus waren, hatte sie einen ersten Eindruck, konnte an der Haltung und am Gang schon erkennen, was ihre Grundstimmung war.
Ich gehe durch den Garten, der lange Weg wächst langsam zu. Jetzt, da keine Patienten mehr kommen, ist es mir nicht mehr so wichtig ihn freizuschneiden. Die verblühten Rosen am Bogen oder in den Rabatten stören mich nicht mehr, sie gehören in diese Zeit. Als wären die unsichtbaren Bewohner in einen Schlaf verfallen, döst der Garten vor sich hin. Die Rabenkrähen umfliegen noch immer das Haus, aber scheinbar krächzten sie nicht mehr so laut, sie sind ganz still. Dies war der letzte Sommer hier, ich spüre es.
Es gibt ein Zimmer der Sammlung in diesem Haus. Auf dem Schrein in diesem Raum entzünde ich jeden Abend eine Kerze. Jeden Morgen kehre ich zurück und spreche unser Gebet. Abgewandelt, den wir leben nun in zwei verschiedenen Welten.
Der goldfarbenen Buddha steht in der Mitte des Schreins. Daneben Christinas Bild, sie lächelt im weichen Abendlicht von Chioggia. Am Bild hängt nun Christinas Halskette. Jene Halskette, die ich ihr zur Hochzeit habe machen lassen, die Halskette, die sie während ihrer letzten Tage getragen hat, die sie anhatte, als sie starb. Der Anhänger stellt zwei Tauben dar. Eine schwarze im Hintergrund und eine goldenen im Vordergrund. Das war mein Versprechen an sie: Ich werde immer hinter Dir stehen.
Kann es gelingen den Tod, das Ende oder besser, die Vollendung eines Lebens nicht als Verlust zu sehen? Wenn die Sonne untergeht, kann ich die Farben der Dämmerung beklagen? Wenn sich das Meer in der Ebbe zurückzieht, soll ich die Weite des Strandes bejammern?
Die Sonne hat mich gewärmt solange sie am Himmel stand, das Meer meine Füße umspült in der Flut. Alles was vergangen ist, lebt jetzt in mir. Kann ich etwas anderes sein als dankbar?