Ich weiß nicht, ob es überhaupt gewöhnliche Menschen gibt, aber ich weiß, dass es außergewöhnliche Menschen gibt. Christina war so ein außergewöhnlicher Mensch.
Sie hat gesagt, die Trauerfeier ist nicht für sie, sondern für uns. Es geht um den Abschied, damit wir Frieden schließen können mit der Tatsache, dass ein Mensch von uns gegangen ist.
Als sie ihre Ziele für die Zeit nach der Praxisschließung aufschrieb, stand da: Ich will Schönheit und Harmonie in die Welt bringen. Und da stand auch: Ich bin ein Teil der unendlichen Schöpfung, das ist es, womit ich mich identifiziere.
Es gibt eine Geschichte, die sie liebte und oft erzählt hat. Diese Geschichte stammt aus der Tradition der Ureinwohner Amerikas. Sie handelt von einer kleinen grauen Maus – Jumping Mouse. Sie hat sich dieser kleinen grauen Maus sehr verbunden gefühlt, weil diese Maus ein großes Herz hatte. Und eine große Sehnsucht. Christina hatte ein großes Herz, ein starkes Herz. Es schlug bis zum letzten Augenblick gegen den größten Widerstand des Wassers, das sich in der Lunge gesammelt hatte.
Jumping Mouse hieß so, weil sie eines Tages einen großen Sprung tat und in der Ferne die heiligen Berge sah. Seither hatte sie die Sehnsucht gepackt, diese Berge zu erreichen. Christina hatte auch Sehnsucht. Schon immer.
Als kleines Mädchen im zerbombten Aschaffenburg – das war vor rund 70 Jahren – sah sie stundenlang aus dem Fenster des Hauses ihrer Großeltern. Auf der gegenüber liegender Straßenseite war ein Fotogeschäft. Die Brautpaare, die sich dort fotografieren ließen, faszinierten sie. Die Schuhe ihrer Mutter, eine Gardine, der große Teddybär. Fertig war das Brautpaar. Ihr Sternzeichen war die Waage und die Waage lebt im Du, sagte sie, sie braucht ein Gegenüber. Und sei es ein Teddybär. Da war sie, die Sehnsucht. Nach dem Du.
Als die Eltern nach Planegg bei München zogen – da wurde sie gerade sechs – wurde der Wald bei Maria Eich ihr Spielplatz. Sie verschwand im Wald, kehrte verdreckt mit einem Körbchen Beeren zurück. Die freie Natur, ein Ort der Sehnsucht. Das war der glückliche Teil.
Der unglückliche Teil waren die Depressionen ihrer Mutter, der Zwist der Eltern. Diese gehörten zu jener verführte Generation, die im Außen ein Wirtschaftswunder lebte und in deren Seele ein wüstes Trümmerfeld lag, Schatten einer Vergangenheit, Wunden unentschuldbaren Verhaltens.
Aber da war Wally, das alte Hausmädchen ihrer Großeltern. Die Großeltern hatten Wally für das Kind nach Planegg geschickt. Eine Frau aus der Oberpfalz, seit Kindesbeinen Dienstmädchen für andere. Das war so damals: die armen, aber kinderreichen Familien gaben ihre Kinder gegen Kost und Logis in den Dienst der Betuchteren.
Wally liebte die kleine Christl über alles. Hingebungsvoll. Und Christel liebte ihre Wally, verteidigte sie gegen Großvaters Grummeleien: Opa, das sagt man nicht! Und Opa, der gestandene Kaufhausbesitzer, gab klein bei. Wally muss die gewesen sein, die durch ihre selbstlose Hingabe vorlebte, was Christina bis zuletzt auch tat: sich vorbehaltlos für ihre Patienten einzusetzen, alles zu geben. Mit ihren Kollegen freigiebig und unprätentiös das immense Wissen und ihre 50-jährige Erfahrung zu teilen.
Ihr Herz war stark. Aber sonst waren die Karten ihrer Gesundheit schlecht zugeteilt. So schlecht, dass kaum aus dem Mutterleib heraus, der Vater die Nottaufe erteilte. Aber ihr Herz war stark und so wuchs sie heran. Als sie siebzehn war, wurde ihr eine weitere Prägung zuteil, die bis zuletzt in ihrer Arbeit nachklang.
Der Hausarzt der Familie war von alter Schule. Christina war in die Praxis geschickt worden, um sich gegen Masern impfen zu lassen. Der Arzt gab ihr die Hand, schaute in ihr Gesicht, nahm den Geruch auf und stellte die Frage: „Hast Du Liebeskummer?“
„Nein! Ich habe noch nicht mal einen Freund“, empört sie sich.
„Na schön“, sagt der alte Arzt, „lass mir Urin da und gehe nach Hause, ich rufe Deine Mutter an und sage ihr alles Weitere. Impfen tue ich Dich heute nicht.“
Sie muss ins Bett, sie muss viel trinken, sie bekommt leichte Kost. Und ihre erste Nierenkolik. Ihr Leben hängt an einem seidenen Faden. Am Ende verliert sie eine Niere. Die Nieren sind der Sitz der Kraft und der Angst sagt man. Sie hat jetzt nur eine und ein starkes Herz.
Dieser Arzt war also in der Lage mit seinen fünf Sinnen das zu tun, wozu heute die großen Labore gebraucht werden. Er konnte die Krankheiten erkennen, bevor sie ausgebrochen waren. Und dieser Arzt wurde ihr erster Arbeitgeber, er war derjenige, der sie in die Heilkunde einführte. Er hieß Dr. Schaber und er war ihr Vorbild, wenn es darum ging, Menschen wahrzunehmen. Christina wurde so gut darin, dass manche dachten, sie hätte übersinnliche Wahrnehmungen. Doch darüber konnte sie nur lachen.
Nicht, dass Christina dem Übersinnlichen abgeneigt gewesen wäre. Wir haben die 80er Jahre und alle sind auf der Suche nach der Erleuchtung. Keiner weiß so genau was das ist und deshalb ist jeder davon begeistert. Die Beatles fahren nach Indien, die Möwe Jonathan erlöst die Welt – vielleicht auch nur die Möwen, das wird nicht so klar.
Christina und ich arbeiten beide im Klinisch-chemischen Institut des Krankenhauses Harlaching. Wir sind uns sympathisch, aber lange nur Kollegen, die sich auf Spaziergängen im Park des Krankenhauses während den Mittagspausen über Gott und die Welt austauschen. Unabhängig voneinander kündigen wir unsere Stellen und bei der gemeinsamen Ausstands-Feier springt ein Funke über – es brennt lichterloh. Nach neun Monaten heiraten wir und noch vierzig Jahre später betrachten wir uns als eine Seele in zwei Körpern.
Wie der italienische Teil der Familie Christina erlebt, beschreibt meine Schwester zum Abschied wie folgt:
Das Geschenk: Es wurde feierlich angekündigt, es war schon in der Ickstattstrasse in München, wo auch ich 19 Jahre bis zu meiner Heirat aufgewachsen bin.
Es hatte auch schon einen italienischen Reisepass obwohl das Italienisch noch haperte!
Das Geschenk kam mit Donato nach Italien in unser Primierotal: zierlich, fröhlich, blumig eingepackt mit großer Schleife.
Handle with care! Vorsicht nicht überrumpeln, damit wir keinen schlechten Eindruck machen. Es ist nicht an eine turbulente Großfamilie gewohnt.
Jeder wollte daran schnuppern und es öffnen, natürlich zuerst mein Mann Nino, dann unsere 4 Kinder: Donatos Patenkind Cristina, Andreas, Carla und Luigi.
Im Laufe der Jahre kamen noch die Enkel hinzu: die Zwillinge Lorenzo und Serena dann in Padua Ester, Gioele und letztes Jahr Miriam.
Es roch gut, das Geschenk: nach Heilkräutern, Wunderwasser, magischen Tropfen und Salben. Nach ungewöhnlichen Leckereien und Rezepten. Vor allem war für jedes Wehwehchen und Problem von Leib und Seele etwas drin.
Jeder wollte es zuerst in Anspruch nehmen.
Es war immer da: Geduldig mit großen Augen, offenen Ohren und weitem goldigen Herz.
Jeder von uns hat ein Stück bekommen, keiner wurde ausgelassen auch unsere Mutter nicht, so lange sie noch da war.
Es wird immer da sein, das Geschenk und immer gut behütet sein. In unseren Häusern jenseits der Alpen aber besonders in allen Herzen unsere Familie! Ciao Arrivederci Christina, danke,habe keine Angst hoch zu fliegen!
Aber zurück zu den 80er Jahren: Christina stürzt sich in hylotropes Atmen, Schamanismus, Sufismus und die Frauenbewegung gleichzeitig. Sie läuft über glühende Kohlen, meditiert in der Höhle, geht in Schwitzhütten, sucht Visionen auf dem Berg.
In dieser Zeit begegnet ihr die Geschichte jener kleinen grauen Maus mit dem großen Herzen. Jene Maus, die einer inneren Stimme folgend, hochspringt und ins Wasser fällt. Sie ist patschnass und wütend. Aber am höchsten Punkt ihres Sprunges hat sie einen Blick auf die heiligen Berge erhascht. Diese Berge werden der Sehnsuchtsort der Maus. Sie verlässt ihre Familie, macht sich auf dem Weg. Doch der Weg verlangt der kleinen Maus alles ab.
Christina fühlt mit dieser kleinen grauen Maus. Sie arbeitet an sich, lernt verschiedene Heilmethoden. Aromatherapie, Heilkräuterkunde, Ayurveda, Homöopathie. Und sie tut es mit einer Gründlichkeit und Hingabe, mit der Sehnsucht nach dem Schlüssel zur Gesundheit. Genauso wie jene der kleinen Maus nach den heiligen Bergen.
Dann findet Christina jenes Gebiet, auf dem sie zur Autorität heranwächst: die Spagyrik, der von Paracelsus begründete Heilzweig der Alchemie. Sie behandelt tausende Patienten. Sie schreibt Bücher, sie macht Vortragsreisen, sie bildet Kollegen aus. Sie tut es mit Hingabe und mit Ausdauer. Ich will in die Herzen der Menschen das tiefe Prinzip der Heilung versenken, hat sie geschrieben.
Sie hat ein starkes Herz aber einen fragilen Körper. Jenes Gleichgewicht, das wir Gesundheit nennen, ist immer schwieriger zu halten. Sie will ein Wanderstab sein, doch es gibt auch die, die sie für ein Transportunternehmen halten, einen Elefanten, auf den man aufsteigt und der sie von der Krankheit zur Gesundheit transportiert.
Kaum jemand nimmt wahr, wie dünn das Eis unter ihren Füßen ist.
Sie plant das Ende ihrer Laufbahn, setzt ein Datum für das Schließen ihrer Praxis – es liegt noch vor uns. Doch dann plötzlich geht es nicht mehr, von einem Tag auf den anderen muss sie die Praxis aufgeben.
Für viele Menschen kommt das unerwartet. Wie kann das sein? Was ist da los? Warum gerade sie, die doch so vielen geholfen hat?
In den alten Schriften gibt es sinngemäß den Spruch:
Es gibt Ärzte, die sind für den Kranken wie ein Sturz in den Abgrund.
Und es gibt Kranke, die sind für den Arzt wie ein Becher voll Gift.
Christina hat oft gelehrt, dass die Krankheit des Patienten durch die Leber des Therapeuten verstoffwechselt wird. Und ein Tumor sind Zellen die Maß und Ziel verloren haben. Das System war aus dem Gleichgewicht und es gab nur eine Möglichkeit.
Es wurde ihr bewusst, dass sie den Tumor nur überwinden konnte, indem sie sich vom Tumor besiegen ließ.
Sie entscheidet sich für das alchemische Stirb und Werde. Einen Sprung im absoluten Vertrauen auf die Existenz anderer Welten als der, in der wir uns hier befinden.
Wir können nur ungläubig stehen und staunen. Was gehört eigentlich dazu einen solchen Weg zu gehen?
Wir finden zwei Hinweise:
Zunächst ist da ihre Ausrichtung, die in der täglichen Affirmation Ausdruck findet:
„Vergebung ist der Weg in die Freiheit und er führt mich nach innen.“
Der zweite Hinweis betrifft die Sehnsucht und führt zu Jumping Mouse:
Die kleine graue Maus erreicht ihr Ziel. Es ist der See der Heilung auf den heiligen Bergen. Das war das Ziel ihrer Sehnsucht. Aber unsere kleine Maus hat alles geopfert, liegt blind und hilflos am Ufer des heilenden Wassers.
Sie ahnt den Raubvogel, hört das Rauschen der Schwingen, fühlt den tödlichen Schlag.
Dann hört sie eine Stimme, die sie ruft:
„Jumping Mouse – mach dich ganz klein und spring so hoch du kannst!“
Und sie springt so hoch sie kann, ein letztes Mal.
„Jumping Mouse – mach die Augen auf!“
Da öffnet die kleine Maus die Augen.
Und die kleine graue Maus ist keine Maus mehr.
Sie ist der Adler, der da oben fliegt.